• Fachbeitrag

Wenn Bürokratie auf die Praxis in der Wirtschaft trifft

Von außen betrachtet wirkt der deutsche Arbeitsschutz wie ein Bollwerk aus Vorschriften, Richtlinien und Kontroll­mechanismen. In der Praxis steht dieses System zunehmend in der Kritik – nicht etwa wegen seiner Zielsetzung, sondern wegen der Art seiner Umsetzung. Immer mehr Unternehmer, Branchenvertreter und Politiker fordern: weniger Bürokratie, mehr Augenmaß. Doch ist das der richtige Weg? Es ist - wie in vielen Fällen - ein Mittelweg der richtige Weg. Das sehen so Anna Ganzke und Stefan Ganzke von Wandelwerker.

Arbeitssicherheit und die Umsetzung

Zwischen Sicherheitsanspruch und Regelwut
Arbeitsschutz soll dafür sorgen, dass Beschäftigte sicher und gesund ihrer Tätigkeit nachgehen können – daran zweifelt niemand. Doch wie dieses Ziel erreicht wird, ist zunehmend umstritten. Die gesetzlichen Vorgaben haben sich in den letzten Jahrzehnten stetig erweitert. Dabei sind viele Regelungen durchaus sinnvoll: Seit Einführung des Arbeitsschutzgesetzes in den 1990er-Jahren ist die Zahl meldepflichtiger Arbeitsunfälle in Deutschland deutlich gesunken. Der Erfolg gibt dem Regelwerk Recht.

KMU sind belastet
Doch nicht jede Vorschrift ist in jeder Branche gleich relevant – und nicht jede ist für Unternehmen leicht umzusetzen. Insbesondere kleine und mittlere Betriebe berichten von einer zunehmenden Belastung durch Dokumentationspflichten, Prüfintervalle und Unterweisungsnachweise. Die eigentliche Intention des Arbeitsschutzes droht dabei mitunter aus dem Blick zu geraten: nämlich Risiken sinnvoll zu minimieren.

Der Stellenwert des Arbeitsschutzes: stark branchenabhängig
Wie hoch der Arbeitsschutz in einem Unternehmen priorisiert wird, hängt stark von Branche, Unternehmensgröße und Unternehmenskultur ab. In großen Industriebetrieben gehört er fest zur Unternehmens-DNA. In kleinen Handwerksbetrieben oder Dienstleistungsunternehmen wird er hingegen teils eher als lästige Pflicht empfunden – auch, weil hier die Folgen von Mitarbeiterausfällen oft unmittelbarer spürbar sind, gleichzeitig aber die Ressourcen für umfassende Umsetzung fehlen.
Dabei ist der gesetzliche Rahmen keineswegs starr: Betriebe haben durchaus Spielräume, wie sie einzelne Maßnahmen umsetzen – sofern dies fachlich begründet und risikoorientiert geschieht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Prüfung ortsveränderlicher elektrischer Betriebsmittel.
Während auf Baustellen aufgrund der rauen Bedingungen kurze Prüffristen geboten sind, reichen in Bürogebäuden mit stabiler Umgebung oft längere Intervalle aus. Entscheidend ist die Gefährdungsbeurteilung – sie erlaubt eine praxisnahe Einordnung.

Wenn Vorschriften auf Unverständnis stoßen
Probleme entstehen nicht selten durch eine fehlende oder übervorsichtige Auslegung von Vorschriften. So gibt es Fälle, in denen 50-jährige Mitarbeiter im Produktionsbereich eine Unterweisung zum Mutterschutz erhalten – obwohl dort noch nie eine Frau beschäftigt war.
Oder es wird verlangt, dass neue elektrische Bürogeräte trotz CE-Kennzeichnung von einer befähigten Person geprüft werden – ein organisatorischer Kraftakt für Kleinbetriebe, die nur gelegentlich neue Geräte anschaffen.
Solche Beispiele sind nicht Ausdruck gesetzlicher Starrheit, sondern von Unsicherheit im Umgang mit den Vorgaben. Viele Unternehmen fürchten bei kleinsten Abweichungen Sanktionen – und setzen deshalb auf „sichere“ Übererfüllung. Das kostet Zeit, Nerven und nicht selten das Vertrauen der Belegschaft in den Sinn mancher Maßnahmen.

Spielräume nutzen – ohne auf Sicherheit zu verzichten
Dabei zeigt sich: Entbürokratisierung ist im Arbeitsschutz durchaus möglich, ohne Abstriche bei der Sicherheit zu machen. Die Grundlage dafür ist eine fundierte Gefährdungsbeurteilung. Sie erlaubt es Betrieben, Maßnahmen am tatsächlichen Risiko auszurichten – nicht am „Worst Case“-Szenario.
Wer etwa elektrische Betriebsmittel in einem ruhigen Büroumfeld nutzt, muss diese nicht jährlich prüfen lassen, wenn keine erhöhte Gefährdung vorliegt.
Die Voraussetzung: Die Verantwortlichen im Unternehmen müssen die gesetzlichen Rahmenbedingungen kennen und richtig interpretieren. Es braucht Fachkompetenz, aber auch ein gewisses Maß an Pragmatismus. Dabei können externe Berater oder Schulungsangebote helfen – ebenso wie ein Perspektivwechsel hin zu einer partnerschaftlichen Beziehung zwischen Betrieben und Aufsichtsbehörden.

Von der Regel zur Haltung: Eine neue Sicherheitskultur
Doch der vielleicht wichtigste Hebel für eine wirksamere und weniger bürokratische Arbeitsschutzpraxis liegt nicht in der Vorschriftenlage, sondern in der Unternehmenskultur. Denn dort, wo Sicherheit als echter Wert und nicht als Pflicht verstanden wird, werden Regeln mit Überzeugung eingehalten – nicht aus Angst vor Sanktionen.Eine solche soziale Sicherheitskultur setzt auf Eigenverantwortung, Vertrauen und Mitgestaltung. Sie begreift Arbeitsschutz nicht als Liste von Aufgaben, sondern als Teil einer gesunden Organisationsentwicklung.
Gerade in Zeiten von Fachkräftemangel, demografischem Wandel und psychischer Belastung wird dieser kulturelle Ansatz immer wichtiger.

Weniger Bürokratie ist möglich – wenn Verantwortung ernst genommen wird
Arbeitsschutz muss kein Bürokratiemonster sein. Im Gegenteil: Wer Risiken realistisch bewertet, Maßnahmen mit Augenmaß umsetzt und eine echte Sicherheitskultur etabliert, schafft nicht nur mehr Sicherheit, sondern auch mehr Akzeptanz. Der Weg dahin führt über Wissen, Dialog – und den Mut, starre Vorgaben im Sinne der Praxis zu hinterfragen.
Nicht die Regel schützt den Menschen – sondern das Verständnis für ihren Sinn. Genau darin liegt die Chance für einen modernen Arbeitsschutz.

Stefan Ganzke mit Anna Ganzke Gründer und Geschäftsführer der Wandelwerker Consulting GmbH. Gemeinsam mit ihrem Team unterstützen die beiden mittelständische Unternehmen und Konzerne dabei, die Arbeitsunfälle kontinuierlich und nachhaltig zu senken sowie eine gelebte Arbeitsschutzorganisation zu entwickeln.

Wandelwerker Consulting GmbH
Anna Ganzke & Stefan Ganzke