- Fachbeitrag
KI und Visualisierungen verbessern effizient die Ergonomie
11. Tage der Ergonomie in Friedrichshafen
Die grundlegenden Themen des Kongresses
„Sitzarbeitsgestaltung“, „Fahrzeuginterieur“ sowie „Gesundheit & Prävention“: Die Schwerpunktthemen der 11. Tage der Ergonomie haben erneut zu einem bilateralen Wissensaustausch und zur Vernetzung von Praxis und Wissenschaft beigetragen. Im Rahmen der Konferenz referierten 11 Vertreter aus Wissenschaft, Verbänden und Industrie. Neben den spannenden Vorträgen nutzten insgesamt 7 Aussteller die Möglichkeit, ihre Produkte im fachlichen Umfeld der Konferenz zu präsentieren: Scalefit UG, Treston Deutschland GmbH, das Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e.V. (ifaa), Predimo GmbH, Ergophysion, Ergonomiemarkt und die Ergonomie.experten. „Auch in diesem Jahr ermöglichte die Konferenz einen fachlichen und persönlichen Austausch zugunsten einer intensiven Vernetzung der Teilnehmer“, schreiben die Veranstalter als Fazit.
Die Kunst sich selbst zu führen
„Die Kunst sich selbst gesund zu führen“ war das Thema von Dorothée Remmler-Bellen. Sie ist im Bereich des betrieblichen Gesundheitsmanagements aktiv und Mitglied der Gesundheitsregion Niederrhein der IHK. Eine ihrer Kernthesen und Mantras an denen man sich als Führungskraft oder Arbeitnehmer: „Ja, ich kann! Ich schwimme sicher im Fluss des Lebens. Ich bin der Kapitän meines Lebensschiffes.“
Ein Blick auf Exoskelette
Prof. Dr.-Ing. Martin Schmauder (Fakultät Maschinenwesen, Institut für Technische Logistik und Arbeitssysteme Professur für Arbeitswissenschaft bei der Technischen Universität Dresden) sprach über den Einsatz von Exoskeletten. Zur Einordnung: Exoskelette sind am Körper getragene Assistenzsysteme, die mechanisch auf den Körper einwirken. Martin Schmauder sieht die Exoskelette nicht als „Universalmittel“. „Für einige Arbeitsplätze mit spezifischen Bedingungen können Exoskelette eine Reduzierung der Beanspruchung bewirken“, lautet einer seiner Thesen. „Exoskelette als alleinige Maßnahme erbringen keine ausreichende Punktabsenkung bei der Anwendung von Leitmerkmalmethoden in eine niedrigere Risikokategorie“, so Schmauder, der aber darauf hinwies, dass Exoskelette laufend weiterentwickelt werden und arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse erarbeitet werden“
Die Fahrzeuginneräume der Zukunft?
Prof. Dr.-Ing. Ralf Stetter beschäftigt sich an der RWU Hochschule Ravensburg-Weingarten University of Applied Sciences mit Konstruktion, Entwicklung in der Kraftfahrzeugtechnik und ist Studiendekan Produktentwicklung im Maschinenbau (Master) und Auslandsbeauftragter der Fakultät Maschinenbau. Er referierte über Innenraumkonzepte für Ladepausen von E-Autos in der Zukunft. Seine Leitfrage lautete: „Wie inszeniert man den Innenraum um die Bedürfnisse der Fahrzeuginsassen bei Ladepausen zu befriedigen?“ „Vieles ist machbar und technisch lösbar“, so seine These. Im Referat zeigte er mit KI-Bildern, wie in Innenräume aussehen und genutzt werden können. Sport, Fitness, Essen an einem großen Tisch, Spielen, Sitzen wie in einer Lounge. Vieles ist hier, so Ralf Stetter, möglich. Seine Forderung in Sachen Konstruktion und Ergonomie: „Innenräume müssen noch flexibler werden. Dies ist nur mit intelligenter, intuitiver Verstelltechnik möglich. Die Bedürfnisse der Insassen sollten dabei stets im Blick behalten werden. Der Mensch steht im Mittelpunkt.“
Die Mobilität und Logistik der Zukunft?
Manuel Kipp von der Technischen Universität München sprach zum etwas sperrigen Thema „Unicar Agil – Nutzerorientierte Gestaltung eines autonomen Shuttles mittels digitaler Menschmodellierung“. Daher verbirgt sich ein Projekt rund um vier zukunftsorientierte Fahrzeugmodelle. „Vier vollständig autonome Fahrzeugprototypen zeigen nun, wie zukünftige Mobilität gelingen kann und gleichzeitig komplexe Aufgaben aus dem individuellen und öffentlichen Verkehr sowie des Gütertransports erfüllen kann“, so Kipp.
Bei der Bewältigung der Herausforderungen, die sich aus einem steigenden Mobilitätsbedarf und der fortschreitenden Urbanisierung ergeben, werden automatisierte und vernetzte Fahrzeuge eine Schlüsselrolle einnehmen. Sie schaffen die Grundlage für einen nachhaltigen und intelligenten Straßenverkehr, neuartige Mobilitäts- und Transportkonzepte sowie Verbesserungen der Verkehrssicherheit und Lebensqualität im urbanen und ländlichen Raum.
Dafür geeignete Fahrzeugkonzepte erfordern jedoch eine wesentlich leistungsfähigere und updatefähige Informationsverarbeitung im Kraftfahrzeug und damit eine Revolution etablierter Architekturen und Entwicklungsprozesse. Die in der Automobilindustrie vorherrschende Vorgehensweise der evolutionären Weiterentwicklung bestehender Systeme und Konzepte wird aufgrund zahlreicher Abhängigkeiten zwischen Hardware und Software nur begrenzt Erfolg haben können.
Ziel des Projekts war deshalb, durch die Kooperation führender deutscher Universitäten im Bereich automatisiertes Fahren mit spezialisierten Unternehmen die Grundlagen für ein nutzerzentriertes und an den menschlichen Fähigkeiten orientiertes Konzept des fahrerlosen Fahrens zu schaffen. Deshalb wurde bewusst darauf verzichtet, aktuelle Fahrzeuge umzubauen oder zu erweitern.
Daher hat das Projektkonsortium zunächst einmal eine komplett neue Fahrzeugstruktur ohne die Altlasten aktueller Fahrzeuge entwickelt. Herkömmliche Fahrzeuge bestehen grundsätzlich aus einem Fahrwerk, einem Antrieb und einer Karosserie. In Unicar Agil wurden nun das Fahrwerk mit dem Antrieb „verheiratet“ und in vier Dynamikmodulen zusammengefasst, die jeweils ein einzelnes Rad antreiben, führen, lenken und bremsen. Verbunden werden diese Module miteinander über eine Fahrplattform, die dank der neuartigen Radführung auch alle Räder um 90° einlenken kann und so auch einfach seitlich in kleinste Parklücken passt. Entsprechend der intendierten Nutzung von Fahrzeugen können individuelle Kabinen auf die Fahrplattform gesetzt werden. Dieses Baukastenprinzip erlaubt eine maximale Flexibilität bei der Innenraumgestaltung bei minimalem Entwicklungsaufwand für eine zukünftige Serienproduktion.
Um Fahrzeuge sinnvoll zu automatisieren, bedarf es nicht nur vielfältiger Sensor-Technologien, sondern auch einer modularen Steuerungs-Intelligenz. Neben der Entwicklung generischer Sensormodule lagen weitere Forschungsschwerpunkte auf der Umfeld-Erkennung, einer flexibel erweiterbaren und update-fähigen Software- und Hardware-Struktur und natürlich der Vernetzung und Absicherung all dieser Elemente. So wie das menschliche Gehirn bei z.B. kleineren Verletzungen Aufgaben auf andere Hirnareale überträgt, basieren die Prototypen auch nicht auf einem zentralen Rechner. Deshalb wurde eine Rechnerarchitektur gewählt, die auf mehreren Ebenen arbeitet, dazu das sogenannte Großhirn mit dem Stammhirn und den Dynamikmodulen vernetzt und alle anfallenden Aufgaben mehrfach absichert. Die Dienste-orientierte Software-Architektur erlaubt agile Updates, die zur Laufzeit integriert werden. Die funktionale Architektur umfasst zusätzlich eine Cloud, in der das eigentliche Lernen aus „Erfahrung“ stattfindet, die Straßeninfrastruktur wie z.B. Sensoren an Ampeln und sogenannte „Info-Bienen“, worunter kleine automatisierte Luftfahrzeuge verstanden werden. Die Vernetzung zwischen diesen Bausteinen ermöglicht es den Fahrzeugen, auch in unübersichtlichen Verkehrssituationen vorausschauend und sicher mit herkömmlichen Pkw und Nkw zu interagieren.
Die Flexibilität der vier fahrerlosen Fahrzeugprototypen demonstriert das Konsortium heute beim öffentlichen Abschlussevent anhand unterschiedlicher Anwendungen: Das Auto Cargo zeigt die vollautomatische Paketauslieferung, das Auto Taxi, wie individuelle Motto-Taxis in Zukunft private oder geschäftliche Meetings während der Fahrt zum Bahnhof ermöglichen können. Das Auto Shuttle stellt eine flexible Ergänzung des ÖPNV dar, indem es gerade auf nicht so stark nachgefragten Strecken im ländlichen Raum fährt, und das Fahrzeugmodell Auto Elf thematisiert ein privates und individuell gestaltbares Familienfahrzeug.
Arbeitsplätze analysieren mit Visualierungen
„Scalefit setzt höchste wissenschaftliche Standards in der ergonomischen Analyse von Arbeitsplätzen, Produkten und Prozessen. Wir kombinieren die preisgekrönte, intuitive Analysesoftware Industrial Athlete mit der zuverlässigen IMU-Mocap-Technologie von Xsens zu einem der vielseitigsten Messverfahren in der Ergonomie. Häufige Belastungsarten wie Krafteinwirkung, Zwangshaltungen und Repetitionen werden für jede Körperregion identifiziert und nach aktuellen arbeitswissenschaftlichen und biomechanischen Kriterien (DIN, ISO) bewertet“, stellte Dr. Frank Emrich sein Unternehmen und sein Geschäftsbereich vor. „Die ermittelten Körperhaltungen und Gelenkbelastungen werden grafisch animiert und mit Videoaufnahmen der realen Tätigkeit synchronisiert. Ampelsystem zeigt das Ausmaß körperlicher Belastung Mit seiner integrierten Datenanalyse und automatischen Ergebnisreports ermöglicht der Industrial Athlete schnelle und aussagekräftige Belastungsanalysen, physische Gefährdungsbeurteilungen und ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, ohne dabei auf zeitaufwändige Verfahren und personelle Ressourcen zurückgreifen zu müssen“, so Frank Emrich weiter. Scalefit ermögliche KMU und Großunternehmen, der Wissenschaft und dem Gesundheitswesen, „belastungsarme Arbeitsplätze zu gestalten und gesundheitsfördernde Maßnahmen zu entwickeln.“
Gegen Schmerzen mit Eigenbehandlung bei der Arbeit
„Wir machen aus Buckelwalen wieder Wunderturner“, so präsentierte der Veranstaltungssponsor Martin Feuerstein seine Firma Ergophysion. Ergophysion steht für visionäre Fusion aus Ergonomie und Physiotherapie. „Mit Ergophysion wollen wir effektive und einfach anwendbare Eigenbehandlungs-Methoden für den Alltag aufzeigen. Wir bieten Rückenschulungsseminare auf der einen und Ergonomieprodukte auf der anderen Seite an, mit denen wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten wollen“, so Feuerstein. Ergophysion wurde im Jahr 2018 von Martin Feuerstein gegründet. Der Physiotherapeut mit Maschinenbau-Background hat jahrelange Erfahrung in der Therapie und als Ergonom. Ergophysion ist das Resultat seiner Leidenschaft. Feuerstein stellte unter anderem den Tension Terminator vor. Der Tension Terminator ist als Medizinpropdukt zertifiziert und ermöglicht Mitarbeitern die Selbstanwendung der wirkungsvollsten Therapietechniken. Dadurch ist es möglich, Verspannungen in kurzer Zeit, effektiv zu reduzieren oder ganz zu beseitigen. Je nach Schmerzsymptomatik stehen verschiedene Videoanleitung zur Verfügung. Den Tension Terminator gibt es auch für den Lebensmittel- und Reinraumbereich. Er ist einsatzfähig für Schleusen im OP-Bereich, für Schleusen im Reinraumbereich, generell für Bereiche mit erhöhten Hygieneanforderungen.
Arbeitsplätze gestalten mit KI
Björn Hübner von Treston stellte als Sponsor und Aussteller auf den Tagen der Ergonomie 2024 eine KI-basierte Lösung für die optimale Arbeitsplatzgestaltung vor. Digitalisierung lässt unsere Prozesse immer schneller werden. In der Arbeitswelt bedeutet das häufig mehr oder schnelleres Arbeiten. Gleichzeitig ist Ergonomie ein Thema, das in vielen Unternehmen weiterhin zu kurz kommt und zu gesundheitlichen Ausfällen im Team führen kann. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, launcht Treston, der europäische Hersteller von ergonomischen Arbeitsplatzlösungen für industrielle Einrichtungen, seine Dienstleistung Treston Ergo ID.
„Der neue Service Treston Ergo ID zur Ergonomie-Analyse kombiniert Computer-Vision-Software, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basiert, mit dem Fachwissen der Ergonomie-Experten von Treston, um Arbeitsabläufe zu analysieren und umfassende Erkenntnisse zur Verbesserung der Ergonomie am Arbeitsplatz zu gewinnen“, so die Beschreibung des Produkts. Die Anwendung ist so konzipiert, dass sie eine schnelle Umsetzung für alle Unternehmen jeder Größe ermöglicht - ganz ohne technische Vorkenntnisse oder spezielle Ausstattung. Alles, was Nutzer benötigen, ist ein funktionsfähiges Smartphone mit Kamera.
Zertifizierter Arbeitsschutz bei der BMW Group
„Die BMW Group hat intern ein eigenes Tool für die Bewertung von ergonomischen Belastungen und Gefährdungen entwickelt: SERA (Sicherheits & Ergonomie Risikoanalyse). Dieses System wird bei BMW international übergreifend eingesetzt. Das Vorhaben DWSM (Digital Workplace Stress Management) dient dazu, Haltungen und Kräfte durch den Einsatz einer adäquaten Sensorik automatisiert zu erfassen und an SERA zu übergeben. Hierzu werden ein Motion-Capturing System und ein damit synchronisierter Kraftmesshandschuh verwendet“, so Dr. Marc Snell von der BMW Group bei seinem Vortrag über DWSM. Die sich aus der Aufzeichnung abgeleiteten Ergonomiebelastungen werden teilweise analytisch und teilweise mittels neuronaler Netze ermittelt“, erläuterte Snell weiter. Um arbeitsbedingte Risiken in der Produktion und an Büroarbeitsplätzen frühzeitig zu erkennen, führt die BMW Group umfangreiche Gefährdungs- und Belastungsanalysen durch. „Mit dem Projekt Digital Workplace Stress Management geht die BMW Group über die gesetzlichen Anforderungen hinaus und setzt Maßstäbe in der Automobilbranche. In diesem Zusammenhang wurden 2022 alle Montagestandorte in Deutschland qualifiziert. Unsere internationalen Standorte in Mexiko, in den USA, in Südafrika und im UK wollen wir im Jahr 2023 befähigen, dieses System künftig ebenfalls zu nutzen. Gleichzeitig entwickeln wir unser DWSM fortlaufend weiter“, so Snell. Nach der Konferenz ist vor der Konferenz: Am 6. und 7. März 2025 werden die 12. Tage der Ergonomie ausgerichtet.
Text: Daniel Faust/Quellen: Hersteller, Referenten