• Fachbeitrag

Klassische Bürorbeit und Bedienfehler als Ausnahme?

In der modernen Arbeitswelt verschwimmen die Grenzen zwischen Büro und Zuhause, zwischen menschlicher Entscheidung und algorithmischer Empfehlung. Was früher als Ausnahme galt, ist heute Alltag: Dr. Patricia Tegtmeier, Expertin für Human Factors und Ergonomie, hat in ihrer Präsentation die Chancen und Risiken dieser Entwicklung analysiert. Außerdem zeigte Dr.-Ing. Stephan Riedel, Senior HF Engineer bei Boehringer Ingelheim, was Ergonomie mit Patientensicherheit zu tun hat.

Fotos: Daniel Faust

Zwei weitere Themen von der ECN-Tagung in Friedrichshafen

Arbeiten wo und wie man will?
Flexibilität ist das Schlagwort der Stunde. Mitarbeiter können heute oft selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten – ein Fortschritt, der ohne digitale Technik undenkbar wäre. Doch diese Freiheit hat ihren Preis. Während klassische Bildschirmarbeit im Büro klar definierte Rahmenbedingungen bietet, fehlt es im Homeoffice oder unterwegs häufig an ergonomisch optimierten Arbeitsplätzen. Gerade in hybriden oder multilokal arbeitenden Teams, bei denen Kollegen sich an unterschiedlichen Orten befinden, rückt die Kommunikation in den Fokus. Für Tegtmeier ist klar: Die moderne Bildschirmarbeit braucht klare Regeln – und ein neues Verständnis von Verantwortung. Wer ortsunabhängig arbeiten will, muss auch mobilitätskompetent sein. Arbeitgeber wiederum müssen Rahmenbedingungen schaffen, die Vorhersehbarkeit, Beeinflussbarkeit und Kontrollierbarkeit ermöglichen. Eine durchgehende Präsenzpflicht? Aus ihrer Sicht nicht mehr zeitgemäß.

Mit einer Datenbank zu einer hohen Patiensicherheit
Rund 70 Prozent aller Fehler im Umgang mit medizinischen Geräten lassen sich auf menschliches Versagen zurückführen. Was zunächst nach Einzelfehlern klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen häufig als systematisches Problem – schlechte Ergonomie. Der falsche Drehmoment, eine zu schwer zu bedienende Kappe, unleserliche Beschriftungen – kleine Details mit großen Folgen.
Eine neue Initiative will genau hier ansetzen. Bei seinem Vortrag stellte Stephan Riedel ein Werkzeug vor, das die Produktentwicklung revolutionieren könnte: die Ergonomiedatenbank. Ihr Ziel: medizinische Geräte so zu gestalten, dass sie intuitiv, sicher und kraftangepasst von möglichst vielen Menschen genutzt werden können – ganz gleich ob jung, alt, gesund oder chronisch krank. Die Gefahr schlechter Bedienbarkeit.
Gerade bei Injektionsgeräten, wie sie von Diabetikern oder Rheumapatienten regelmäßig genutzt werden, zählt jede Bewegung. Studien zeigen: Insulin ist an etwa einem Drittel aller durch Medikationsfehler verursachten Todesfälle beteiligt. Ursache ist häufig nicht die falsche Substanz, sondern die falsche Handhabung. In einer Zeit, in der Patienten immer häufiger ihre Behandlung selbst übernehmen müssen, wird die Benutzerfreundlichkeit zur Überlebensfrage.
Die neue Datenbank dokumentiert und analysiert jeden einzelnen Bedienschritt – vom Öffnen der Verpackung über das Aufsetzen der Nadel bis hin zum Injektionsvorgang. Anhand dieser Analyse werden sogenannte „Mensch-Maschine-Schnittstellen“ identifiziert: das Gehäuse, der Injektionsknopf, die Schutzkappe – also alle Elemente, an denen der Nutzer aktiv mit dem Gerät interagiert.
Zentral sind dabei konkrete Ergonomie-Parameter: Wie viel Kraft muss aufgewendet werden? Ist die Schrift groß genug? Wie schnell darf eine Kappe entfernt werden, ohne versehentliches Auslösen? Welche Drehmomente sind noch akzeptabel? Spannend wird es bei der Frage nach der „erträglichen Kraft“.
Die Datenbank greift dabei auf das Konzept der Maximal Voluntary Contraction (MVC) zurück – also der maximalen Kraft, die ein Mensch unter bestimmten Bedingungen ausüben kann, ohne sich zu überlasten. Ergänzt wird dies durch komfortable und minimale Kräfte, bei denen eine sichere Bedienung gewährleistet ist.
Das Ziel: Eine Auslösekraft von etwa 10 bis 20 Newton – stark genug, um ungewollte Aktivierungen zu verhindern, aber schwach genug, um auch von Patientinnen mit eingeschränkter Handkraft gemeistert zu werden.
Am Ende steht eine klare Vision für die Datenbank: 95 Prozent aller Nutzer sollen in der Lage sein, ein Gerät sicher und effektiv zu bedienen.

Text: Daniel Faust/Quellen: Referenten